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FAZ: Unser Asylrecht gründet auf einer Lüge

Unter der Rubrik „Fremde Federn“ hat Thorsten Frei in der heutigen Print-Ausgabe der FAZ nachfolgenden Gastbeitrag zur Asylpolitik veröffentlicht:

 

von Thorsten Frei

Wer an der Asylpraxis in Deutschland etwas ändern will, muss zwingend auf europäischer Ebene handeln, da das Asylrecht weitestgehend vergemeinschaftet und dem nationalen Gesetz­geber entzogen ist.

Von der Reform der „Gemeinsamen Europäischen Asylpolitik“, die derzeit in Brüssel verhandelt wird, ist nur wenig zu erhoffen, da sie das grundlegende Problem nicht angeht: Der Konstruktionsfehler des europäischen Asylrechts und damit auch der deutschen Asylpraxis besteht darin, dass beide auf einer Lüge gründen: Wir gestalten unser Asylrecht als Individualrecht aus und sind zugleich nicht bereit, den Anspruch in unbegrenztem Umfang einzulösen, der daraus resultiert.

Welche Heuchelei sich mit unserer Rechtskonstruktion verbindet, zeigt sich rasch, wenn dieses Recht in einem Gedankenexperiment durchgespielt wird: Nimmt man die Gesamtschutzquote unter den afghanischen Asylbewerbern in Deutschland, wären wir nach bestehender Rechts­lage verpflichtet, rund 35 Millionen Menschen vom Hindukusch aufzunehmen. Niemand denkt auch nur im Traum daran, das zu tun – nicht einmal die entschiedensten Gegner einer Obergrenze und lautesten Vertreter eines „Wir schaffen das!“.

Dementsprechend tut Europa alles dafür, dass möglichst wenige dieses Recht in Anspruch nehmen: Wir machen uns mit Autokraten gemein, damit sie Menschen von unseren Grenzen fernhalten, und sehen weg, wenn Staaten zu illegalen Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen schreiten. Damit möglichst wenig Menschen ihr Recht in Anspruch nehmen, knüpfen wir es an die Voraussetzung eines Antrages auf europäischem Boden und initiieren damit einen viel zu oft tödlich verlaufenden Wettlauf, in dessen Rahmen nur eines gilt: das Recht des Stärkeren.

Unser Asylrecht richtet sich durch seine Ausgestaltung nicht an die Schwächsten, sondern trifft eine zutiefst inhumane Auswahl: Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, ist chancenlos. Er kann sich nicht auf den Weg durch die Wüsten Afrikas und über das Mittelmeer machen. Frauen und Kinder sind damit von unserem „humanen“ Recht oft faktisch ausgeschlossen.

Doch nicht nur mit Blick auf die Antragsteller entfaltet das Asylrecht eine inhumane Wirkung. Es erweist sich inzwischen auch für die Gesellschaften der aufnehmenden Staaten als hoch problematisch. Selbst in den skandinavischen Staaten ist in den letzten Jahren nach überwiegender Auffassung der Be­völkerung die Belastungsgrenze überschritten worden. Mit der ungesteuerten Migration verbinden sich Sicherheitsrisiken und Integrationspro­bleme. Hinzu kommt, dass es in Europa faktisch kaum mehr gelingt, zwischen Schutzbedürftigen und Wirtschaftsmi­granten zu unterscheiden.

Am Ende des Asylprozesses steht faktisch immer ein Ergebnis: Schutzbedürftige und Migranten können sich das Land ihres Aufenthaltes frei aus­suchen, und wer es einmal nach Europa geschafft hat, kann bleiben, gleichgültig ob er unseres Schutzes bedarf oder aus ökonomischen Gründen il­legal einwandert. Von einem solchen System geht ein fataler Zuwanderungsanreiz aus, der den tödlichen Wettlauf nach Europa stets aufs Neue befeuert, und es hat in Europa rechtsextreme Parteien erstarken lassen, die nichts sehnlicher wünschen als das, was sie am meisten zu bekämpfen vorgeben: die nächste Migrationskrise.

Europa kann diesen Teufelskreis nur beenden, wenn es sein Asylrecht neu gründet: Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden. Eine Antragstellung auf europä­ischem Boden wäre nicht länger möglich, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten umfassend ausgeschlossen. Ein solcher Ansatz würde Europa etwas ermöglichen, was es in der Vergangenheit nie in großem Stil gewagt hat: jährlich ein Kontingent von 300.000 oder 400.000 Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufzunehmen und auf die teilnehmenden Staaten zu verteilen.

Mit einem solchen Asylrecht könnte Europa sich nicht nur an die Schwächsten wenden, sondern sehr genau dort helfen, wo Staaten durch große Flüchtlingsströme destabilisiert werden. Die Auswahl von Schutzbedürftigen über Kontingentlösungen hätte zudem den Vorteil, dass Sicherheitsrisiken minimiert, die Chancen für eine Integration maximiert und Staaten ein planbarer Ressourceneinsatz ermöglicht würde. Die illegale Migration wäre unterbunden, der Staat würde die Kontrolle über die Migrationsströme zurückerlangen, und Rechtspopulisten der Boden entzogen.

Außerdem sollte es ein Antragsrecht für Bürger der Staaten geben, die unmittelbare Nachbarn Europas sind: eine Reihe kleiner Balkanstaaten, Russland, Weißrussland, die Ukraine und die Türkei. Ihre Aufnahme würde auf das Kontingent angerechnet. Käme es zu einem Massenzustrom wie derzeit im Falle der Ukraine, würde Europa für einen längeren Zeitraum kein Kontingent aus dem entfernteren Ausland mehr aufnehmen.

Die Voraussetzung für all das wäre, dass Europa sein Asylrecht nicht länger nach seiner Gesinnung, sondern nach seinen Konsequenzen beurteilt. Auf diesem Weg gibt es enorme politische Hürden. Aber wenn wir sie nicht überwinden, führt die Überforderung unserer Gesellschaften zur Zerstörung dessen, was das Asylrecht gewähren will: ein Europa als Zufluchtsort für schutzbedürftige Menschen.