Thorsten Frei in der FAZ: Eine Operation am offenen Herzen

von Thorsten Frei
Kinder sind schon jetzt Grundrechtsträger / Die Verfassung hat keine Lücke 
„Auf den ersten Blick scheint der Gedanke verlockend: Kinderrechte ins Grundgesetz. Er klingt, als würden wir damit die Lage der Schwächsten unserer Gesellschaft, der Kinder, entscheidend und unmittelbar verbessern. In Zeiten, in denen wir beispielsweise leider regelmäßig von Fällen sexuellen Missbrauchs lesen, in Staufen, in Lügde, in Bergisch-Gladbach, scheint dies besonders nötig. Etwas für Kinder zu tun – das dürfte die Zielsetzung gewesen sein, aus der heraus dieses Anliegen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Doch was muss geschehen, damit diese gemeinsame Intention auch wirklich in geeigneter Weise umgesetzt wird?
Ausgangspunkt ist eine Ernüchterung: Wer erwartet, eine Grundgesetzänderung würde Fälle wie die zuvor genannten in Zukunft wirkmächtig verhindern, dürfte enttäuscht werden. Denn eine Grundgesetzänderung sorgt beispielsweise nicht automatisch dafür, dass Ermittler bessere Befugnisse zum Schutz von Kindern oder zur Strafverfolgung von Tätern erhalten. Hier ist der Gesetzgeber in den einfachen Gesetzen gefragt, also etwa im Strafprozessrecht, im Strafrecht, im Jugendstrafrecht. Fortschritte im Kinderschutz sind hier vielfältig denkbar: So wird es helfen, wenn künftig Ermittler computergenerierte Bilder von Missbräuchen verwenden dürfen, um Zutritt zu kinderpornographischen Foren zu erhalten – so, wie wir es jetzt in der Koalition planen. Auch würde es helfen, wenn die Mindeststrafe bei Kinderpornographie deutlich erhöht werden würde. Dies würde nicht nur dem Unrechtsgehalt gerecht werden, sondern könnte auch zu einer einfacheren Anordnung von Untersuchungshaft führen. Mit solchen konkreten Maßnahmen können Straftaten besser aufgeklärt und idealerweise schon verhindert werden – und das alles auf dem Boden des Grundgesetzes in seiner geltenden Fassung. Was weiter helfen wird: eine mit genügend Personal ausgestattete Polizei und Justiz. Abseits des Strafrechts könnte auf Länderebene beispielsweise auch eine bessere personelle Ausstattung der Familien- und Jugendämter sowie entsprechende Aus- und Fortbildungen von Richterinnen und Richtern bei den Familiengerichten der Zielsetzung des Koalitionsvertrages näherkommen.
Wozu also Kinderrechte im Grundgesetz? Befürworter sagen oft: um ein Zeichen zu setzen. So gut wie nie wird allerdings behauptet, das Grundgesetz würde an dieser Stelle eine Lücke aufweisen. Denn klar ist: Kinder sind schon jetzt ganz selbstverständlich Grundrechtsträger. Echte Kindergrundrechte wären ein Fremdkörper im Grundgesetz – sie würden eine Gruppe herausheben, obwohl sie doch ohnehin schon Träger dieser Rechte ist. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Gegen wen sollten sich Kindergrundrechte richten? Mittelbar gegen ihre Eltern? Je nach Ausprägung laufen Eltern damit Gefahr, dass ihre Rechte zugunsten des Staates zurückgedrängt werden. Denn wer soll für das Kind, das noch zu klein ist, um seine Grundrechte selbst auszuüben, tätig werden? Bislang sind das aus guten Gründen die Eltern, begrenzt durch das eben nur subsidiäre Wächteramt des Staates. Das Kind wächst mit zunehmender Grundrechtsmündigkeit nach und nach in alle diejenigen Rechte hinein, die – anders als etwa das Recht auf Leben – bestimmte kognitive Anforderungen stellen. Nach diesem ganz zutreffenden Weltbild sind es die Eltern, die in erster Linie auf das Kindeswohl achten und dieses verwirklichen – und eben nur nachrangig der Staat. In diesem vom Bundesverfassungsgericht fein austarierten Dreieck von Kindern, Eltern und Staat ist der Staat nur in Extremfällen gefragt – anders als etwa im Unrechtsstaat der DDR.
Ein Weiteres gilt es zu bedenken: Änderungen im Grundrechtsteil des Grundgesetzes sind Operationen am offenen Herzen der Verfassung. Sie sind aus guten Gründen auf äußerste Notfälle beschränkt. Bevor wir also Änderungen an diesem besonders sensiblen Teil des Grundgesetzes angehen, müssen wir uns darüber klarwerden, wie genau sie wirken. Anzunehmen, dass es keine Wirkungen geben wird, nur weil man keine beabsichtigt, dürfte dabei ein Trugschluss sein. Für Juristen gibt es keine symbolischen Rechtsänderungen. Klarstellende Regelungen sind immer davon bedroht, Einfallstor juristischer Kreativität zu werden. Im Schrifttum zu dieser Frage findet sich hierzu die Einschätzung: Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten. Wie deutlich also der Gesetzgeber auch auf den Symbolcharakter hinweisen mag: Eine Handhabe, dass die Norm nicht in ein paar Jahren ein Eigenleben in neuer Rechtsprechung entwickelt, hat er nicht. Schon jetzt nimmt die Auslegung und Konkretisierung der oftmals schmalen Formulierungen des Grundgesetzes 149 Bände amtlicher Sammlung – mehrere Regalmeter – ein.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit immer wieder neue Rechtsinstitute und dogmatische Konstruktionen aus dem Grundgesetz heraus entwickelt, wenn hierfür ein Bedarf gesehen wurde: So etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und jetzt kürzlich das Recht auf Vergessenwerden, in der Europäischen Rettungspolitik den Grundsatz, dass der gegenwärtige Bundestag künftigen Haushältern Verfügungsmasse über das Budget erhalten muss. Es ist aber ein Unterschied, ob ein seine Rolle aktiv ausübendes Verfassungsgericht ein aktuelles Rechtsproblem über die Interpretation des Grundgesetzes geltender Fassung löst oder ob ihm der Gesetzgeber letztlich sehenden Auges eine offene Formulierung zur weiteren Verwendung überantwortet. Denn originäre politische Gestaltungsaufgaben obliegen der Gesetzgebung; ihre Überprüfung den Gerichten. Das verfassungsrechtlich eigentlich vorgezeichnete Prozedere wäre daher, dass der Gesetzgeber zunächst die gewünschten einfachgesetzlichen Regelungen – zum Beispiel zur besseren Verfolgung von Kinderpornographie – daraufhin untersucht, ob es hierzu einer Grundgesetzänderung bedürfte.
Will man im Lichte der genannten Erwägungen nunmehr eine Regelung zu Kinderrechten im Grundgesetz verankern, sollte dies in jedem Fall mit der gebotenen Vorsicht und in genauer Analyse möglicher Konsequenzen einhergehen. Denn der Gesetzgeber muss im Vorhinein wissen, ob eine vermeintlich rein symbolische Änderung ihn etwa perspektivisch in Fragen wie der Senkung des Wahlrechtsalters oder der Migration binden wird, zu Kinderbeteiligungen oder Vetorechten bei Planungs- und Genehmigungsverfahren, zu Widerspruchsrechten von Kindern bei einem Geschlechtswechsel der Eltern oder zu staatlichen Entscheidungen über Taufe oder Beschneidung verpflichtet. Das Anliegen des Koalitionsvertrags, die Rechte von Kindern in angemessener Weise sichtbar zu machen, ließe sich beispielsweise auch über eine Einfügung eines dritten Satzes im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 GG lösen, der wie folgt lauten könnte: „Die Pflege und Erziehung durch die Eltern dienen dem Wohl des Kindes.“ Denn Ziel muss es sein, den Schutz von Kindern, die Situation von Kindern zu verbessern, ohne gleichzeitig das Grundgesetz, das sich in den 70 Jahren seines Bestehens als Stabilitätsanker erwiesen hat, zu schwächen. Wir sollten uns dies beim weiteren Vorgehen sorgsam vor Augen halten.“

Der Autor ist stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag.

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/kinder-rechtsschutz-eine-operation-am-offenen-herzen-16519129.html