GASTKOMMENTAR in der Tageszeitung „Die WELT“ vom 11.11.2022, S.7.
von THORSTEN FREI
„Wir werden das Parlament als Ort der Debatte und der Gesetzgebung stärken.“ Es waren diese Worte im Koalitionsvertrag, mit denen SPD, Grüne und FDP mit großen Ambitionen in die Wahlperiode starteten.
Ein knappes Jahr später legt die Koalition ihren Vorschlag zur Reform der Geschäftsordnung des Bundestages vor. Gemessen an den vollmundigen Ankündigungen könnte man es sich bei der Bewertung leicht machen: dünne Suppe serviert mit großer Kelle. Aber so einfach ist es nicht, denn die Vorschläge sind in wichtigen Teilen ein Rückschritt. So gibt es zurzeit eine feste Reihenfolge, nach der sich jedes Regierungsmitglied der Befragung im Bundestag stellen muss. Dieses Verfahren ist nicht ideal, führt aber dazu, dass sich die Ministerinnen und Minister auch in für sie schwierigen Phasen nicht wegducken können.
Nur deshalb waren Verteidigungsministerin Lambrecht und Wirtschaftsminister Habeck zu Zeiten in der Regierungsbefragung, in denen sie unter massivem öffentlichen Druck standen. Die Koalition will es nun ganz der Regierung überlassen, wen sie schickt. Zudem sollen künftig mindestens zwei Regierungsmitglieder in der Befragung anwesend sein. Diese würde auf 90 Minuten verlängert. Was nach mehr klingt, ist jedoch in Wahrheit weniger. Derzeit stehen für ein Ressort bis zu 75 Minuten zur Verfügung, künftig 90 Minuten für zwei. Ziel ist es, die Fokussierung und damit eine gewisse „Kreuzverhör-Situation“ zu vermeiden.
Die Befragung des Kanzlers lässt die Koalition faktisch unangetastet. Keine Vorschläge für eine Verlängerung, häufigere Befragungen oder mehr Schlagabtausch. „Die Befragung der Bundesregierung [soll] dynamischer und interaktiver gestaltet“ werden, heißt es im Koalitionsvertrag. Doch die Koalition liefert nicht. Ihr gelingt es nicht, die üblichen Reflexe aller Regierungsfraktionen zu überwinden: Sie meinen, die Regierung schützen zu müssen. Das ging uns als Unionsfraktion im Übrigen nicht anders.
Es muss jetzt gelingen, alte Muster zu durchbrechen, wenn es eine echte Parlamentsreform geben soll. Wesentlich dafür sind aus unserer Sicht drei Punkte:
1. Mehr Prime Minister’s Questions wagen. Bereits 2014 forderte der viel zu früh verstorbene, damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann, die deutsche Regierungsbefragung nach britischem Vorbild zu reformieren. Man hätte ihm folgen sollen. Es gibt Unterschiede zwischen britischem und deutschem Parlamentarismus. Aber Lebendigkeit und Spannung der Prime Minister’s Questions sollten für den Bundestag leitend sein. Der Kanzler muss häufiger befragt werden. Das Parlament muss mehr Einfluss darauf haben, welches Regierungsmitglied sich den Fragen stellen muss. Der Bericht der Regierung muss gestrichen werden – wir wollen Antworten, keine Verkündungen. Die Regierungsbefragung muss als Oppositionsinstrument gestärkt werden, z. B. durch die Schaffung von Fraktionsblöcken für Fragen, damit Themen stärker fokussiert werden. Das Parlament muss der Regierung endlich auf den Zahn fühlen können.
2. Das Wesentliche gehört ins Plenum. Es darf uns nicht kaltlassen, wenn die Bürger den Eindruck haben, die wichtigen Fragen werden in Talkshows und nicht im Parlament behandelt. Bundestagspräsident Lammenrt fasste es treffend zusammen: „Im Hause wird immer noch zu häufig geredet und zu wenig debattiert“. Die Tagesordnungen sind zu lang und zu kleinteilig. Wir müssen Raum schaffen für die wesentlichen Debatten, die das Land bewegen. Wir benötigen dynamische Debattenformate, um in der Prime-Time des Parlaments – auch jenseits von Vorlagen – aktuelle Themen behandeln zu können.
3. Stärkung der Ausschüsse. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament und das zeigt sich primär in seinen Ausschüssen. Diese müssen gestärkt und sichtbarer werden. Durch pauschale öffentliche Sitzungen, wie die Koalition sie will, gelingt das nicht. Beratungen benötigen geschützte Räume, um Lösungsvorschläge offen diskutieren und überparteiliche Kompromisse ausloten zu können. Permanente Live-Übertragungen führen zu Schaufensterreden. Um die Plenarsitzungen zu entlasten, könnten öffentliche Schlussberatungen und Abstimmungen in Ausschüssen für reine Fachvorlagen zur Regel werden.
Wir brauchen ein lebendiges Parlament, das für die Bürgerinnen und Bürger sichtbar ist, das ihre Themen offen debattiert und die Regierung glaubhaft kontrolliert. Nur so können wir die Menschen im Land für die Demokratie neu begeistern. Dafür braucht es eine Parlamentsreform, die den Namen verdient. Wir sind bereit dazu.
Der Autor ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.