Namensartikel im Tagesspiegel

Sondervermögen oder Impfpflicht: Die Regierung will, dass die CDU/CSU hilft – im Namen eines höheren Interesses. Aber wer wollte das bestimmen? Und ist die Union hier als Opposition tatsächlich in einer Pflicht? Dazu die passende Antwort zu finden, hat Thorsten Frei heute im Tagesspiegel mit einem Namensartikel versucht.

Was man von der Opposition nicht fordern kann – Die Ampel offenbart ein problematisches Demokratieverständnis
Von Thorsten Frei
Ganz gleich, ob an diesem Dienstag im Bundestag über neue Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Ausstattung der Bundeswehr diskutiert wird oder vor einigen Tagen über die Impfpflicht – aus den Reihen der Regierung wird zurzeit regelmäßig an die „staatspolitische Verantwortung“ der Opposition appelliert. Auch in einer Reihe von Medien klang zuletzt an: Wenn schon die Mehrheit des Kanzlers verloren sei, so müsse doch wenigstens die Union der „Vernunft“ oder wahlweise dem „wahren Interesse“ der Bevölkerung zum Durchbruch verhelfen und für eine vom Kanzler empfohlene Vorlage stimmen.
Die Vorstellung einer „volonté générale“
Einer solchen Forderung, die die Opposition im Namen eines „höheren Interesses“ auf ein bestimmtes Abstimmungsverhalten festzulegen sucht, liegt nach meiner persönlichen Auffassung ein Demokratieverständnis zugrunde, bei dem unverkennbar die Vorstellung von einer „volonté générale“ (einem allgemeinen Willen) durchscheint, die nicht unproblematisch ist.
Denn wenn es ein „höheres“ oder „wahres“ Interesse des Staatsvolks gibt, stellen sich zwei brisante Fragen: Wer stellt dieses „wahre Interesse“ eigentlich fest? Aller Orten werden sich nämlich Einzelne oder Gruppen finden, die für sich in Anspruch nehmen, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten – sie demoskopisch aufgedeckt oder wissenschaftlich erschlossen oder gar in einer Offenbarung geschaut zu haben –, und die im Anschluss daran arbeiten werden, so hat es der konservative politische Philosoph Michael Oakeshott einmal formuliert: „den Traum Einzelner in eine öffentliche und unentrinnbare Lebensweise zu verwandeln“.
Die zweite große Gefahr, die sich mit dem Postulat von Wahrheit in der Politik verbindet, ist seine Uferlosigkeit. Wenn es ein „wahres Interesse“ des Staatsvolks gibt, das die Abgeordneten des Bundestages verpflichtet, in einer bestimmten Art und Weise abzustimmen, welche Schranken soll dieses „wahre Interesse“ noch finden? Sind dann nicht auch die anderen Institutionen des Verfassungsstaates gezwungen, es zur Geltung zu bringen? Muss es die Exekutive nicht rücksichtslos vollstrecken und das Verfassungsgericht in seinen Urteilen aussprechen? Im Kern ist die „volonté générale“ schrankenlos und richtet sich gegen einen elementaren Grundsatz der freiheitlichen Demokratie: die Gewaltenteilung.
In totalitären Systemen geht es gern um Wahrheiten
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich Extremisten zu allen Zeiten für das Konzept begeistert haben: zunächst in der Französischen Revolution die Jakobiner und später im 20. Jahrhundert die großen totalitären Systeme. Nach ihrer aller gemeinsamen Grundüberzeugung wurde in der Politik nicht um Interessen, sondern um Wahrheit und damit die Seele des Menschen gerungen. Politik avancierte in diesen Fällen zur Ersatzreligion und glaubte, den Menschen durch den Menschen erlösen zu können. Sie alle nahmen für sich in Anspruch, das Paradies auf Erden zu errichten, und sie alle haben sie dabei zweitweise in eine Hölle verwandelt.
„Wir wissen nicht, was wahr ist“, sagte Norbert Lammert so richtig
Gegen das „wahre“ oder „höhere Interesse“ muss die parlamentarische Demokratie ein ganz anders geartetes Credo in Stellung bringen. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat es 2017 in die Worte gekleidet: „Der Kern des Politischen ist die Einsicht in die Aussichtlosigkeit einer verlässlichen Beantwortung der Wahrheitsfrage. Wir wissen nicht, was wahr ist. Die Geschäftsgrundlage der Demokratie ist die Einsicht, dass niemand über die sicher richtigen Lösungen verfügt.“
Diese Einsicht oder anders formuliert: Das Eingeständnis der grundsätzlichen Möglichkeit falsch zu liegen, ist die denklogische Voraussetzung für alle freiheitlichen Grundrechte: das der Rede und Meinung, der Presse und Religion. Es führt dazu, dass Interessen zunächst nicht über- und untergeordnet, sondern alle gleichberechtigt sind. Um in einer solchen Gesellschaft zu Entscheidungen und zum friedlichen Austrag von Interessenkollisionen zu kommen, hat man sich in der Demokratie auf ein ebenso einfaches wie geniales Verfahren verständigt: die geregelte Findung von Mehrheiten.
Die Verantwortung der Opposition liegt in ihrer Funktion
Eine staatspolitische Verantwortung der Opposition kann es deshalb im Meinungsstreit über konkrete Sachfragen gar nicht geben. Sondern sie besteht allenfalls in einem funktionalen Sinne und das heißt in der Wahrnehmung der Funktion, die der Opposition im parlamentarisch demokratischen System zukommt: in der Kontrolle der Regierung und im Vortrag von Alternativen. Demgegenüber zeichnet sich die funktionale staatspolitische Verantwortung der Regierung dadurch aus, dass sie regiert, das heißt führt, Lösungen vorlegt und dafür eigene Mehrheiten findet.
Die konkreten Vorschläge der Regierung oder die der Opposition jedoch als Ausdruck des „wahren“ oder „höheren“ Interesse des Staatsvolkes zu bezeichnen, schiene mir persönlich unbescheiden. Das „wahre Interesse“ des deutschen Volkes bedarf keiner Festlegung durch Dritte. Es offenbart sich an keiner anderen Stelle als in den Abstimmungen des Bundestages und Bundesrates, und wir kennen es erst, wenn ausgezählt ist.