Interview in Cicero

Interview im politischen Magazin „Cicero“

Grenzkonflikt in Belarus-„Was Herr Habeck plant, ist gefährlich und naiv“


In Belarus spitzt sich die Lage zu. Doch während die Polizei an der deutsch-polnischen Grenze schon jetzt überlastet ist, hält sich der noch amtierende Innenminister zurück. Die Ampel-Koalition plant derweil einen völlig neuen Kurs in der Zuwanderungspolitik. Wo der hinführt, erklärt CDU-Fraktionsvize Thorsten Frei.
INTERVIEW MIT THORSTEN FREI am 10. November 2021

Cicero: Herr Frei, an der belarussischen Grenze spitzt sich die Lage zu. Lukaschenko treibt Flüchtlingsmassen an die EU-Grenze zu Polen, und die Polizei muss sich darauf einstellen, dass es  vielen von ihnen gelingen wird, nach Deutschland zu kommen. Was denken Sie, wenn Sie Bilder sehen, die zeigen, dass Flüchtlingstrecks eine Autobahn herunterlaufen?
Thorsten Frei: Was wir in Belarus erleben, ist keine normale Migrationsbewegung, sondern eine orchestrierte – mit dem Ziel, die Europäische Union und Deutschland zu destabilisieren. Lukaschenko lässt aus Dubai, Istanbul oder Damaskus per Touristenvisum oder teilweise sogar visumsfrei jeden Tag 800 bis 1.000 Menschen einfliegen. Er setzt Migranten in einem Akt hybrider Kriegsführung ein und versucht auf diese Weise, eine Aufhebung der EU- Sanktionen zu erwirken. 
Cicero: Flüchtlinge, die zu Fuß eine Straße herunterlaufen. Viele erinnert das an die Bilder von der österreichisch-deutschen Grenze 2015. 
Thorsten Frei: Ich kann diese Assoziation nachvollziehen, doch wir sind heute mit einer ganz anders gearteten Situation konfrontiert. Wir haben 2015 einen Exodus aus Syrien und den umliegenden Staaten erlebt. Vier Jahre, nachdem Assad den Krieg gegen das eigene Volk begonnen hatte. Die Menschen sind vor einem brutalen Bürgerkrieg geflohen. Aber jetzt werden Migranten im Nahen Osten angeworben. Für Jemen und  Pakistan hat Lukaschenko sogar Visumsfreiheit geschaffen. Man kann das nicht anders als eine Einladung verstehen, zunächst an die polnische und dann an die deutsche Grenze zu kommen.
Cicero: Im Augenblick sollen 12.000 polnische Soldaten die EU-Außengrenze sichern. Wie lange wird es noch dauern, bis das polnische Problem ein deutsches Problem wird?
Thorsten Frei: Das polnische Problem ist bereits heute ein europäisches Problem. Das sollten wir sowohl in Deutschland als auch in Brüssel klar erkennen. Polen vertritt an der östlichen Grenze nicht nur polnische, sondern vor allem europäische Interessen. Es ist der Auftrag aller EU-Mitglieder, die Außengrenzen wirksam zu schützen. Der Schutz der Außengrenzen ist konstitutiv für das Funktionieren des Schengenraums. Ohne ihn hätten wir die Binnengrenzen nicht niederreißen  können. Ein solcher Schutz kann auch über eine robuste Grenzanlage erfolgen, so wie es die Polen jetzt mit einer Investitionssumme von 350 Millionen Euro vorhaben.
Cicero: Viele fordern eine Mauer.
Thorsten Frei: Der Bau einer Mauer würde andere finanzielle Mittel erfordern. Ich gehe davon aus, dass sich die politischen Pläne im Rahmen dessen bewegen, was beispielsweise auch an der spanisch-marokkanischen Grenze existiert. Dort hat Spanien einen zehn Meter hohen Zaun errichtet.
Cicero: Aber auch der hält niemanden davon ab, es trotzdem zu probieren.
Thorsten Frei: Es gelingt in der Regel nicht.
Cicero: Die Gewerkschaft der Bundespolizei hat schon am 18. Oktober Alarm geschlagen. Sie hat vor einem „Kollaps“ an der deutsch-polnischen Grenze gewarnt und sich noch vor dem Bundesinnenminister für temporäre Grenzkontrollen ausgesprochen. Davon wollten sie Ende Oktober noch in einem Cicero-Interview nichts wissen. Jetzt hat sich die Lage aber verschärft. Haben Sie Ihre Meinung geändert?
Thorsten Frei: Unser Prioritäten haben sich nicht gewandelt:_. Ein effektiver Außengrenzenschutz ist immer besser als stationäre Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums. Wir müssen das Signal senden: Der Weg nach Europa ist nicht frei. Ich habe Grenzkontrollen aber nie ausgeschlossen. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass sie im Schengen-Europa die absolute Ausnahme bleiben müssen. Sie sind die Ultima ratio.
Cicero: Aber warum sträubt sich Polen dagegen, die Hilfe von Frontex in Anspruch zu nehmen?
Thorsten Frei: Diese Frage muss Polen beantworten. Ich würde mir das wünschen.
Cicero: Am Donnerstag wird die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag zur Begrenzung der Migration einbringen. Was sieht der genau vor?
Thorsten Frei: Es geht darum, dass wir die Instrumente stärken, die wir heute bereits einsetzen. Der Innenminister hat acht Hundertschaften an die deutsch-polnische Grenze beordert. Wir haben die gemeinsamen Grenzstreifen massiv intensiviert. Es wäre gut, wenn man über Verwaltungsverbeinbarungen mit Polen und Litauen die Voraussetzung dafür schaffen könnte, dass man Migranten unmittelbar an der Grenze zurückweisen kann. Wir fordern, dass Polen an der EU-Außengrenze bestmöglich unterstützt wird. Das ist etwas, was zumindest in Brüssel, aber auch in Berlin noch nicht Allgemeingut ist.
Cicero: Und das noch nicht mal in Ihrer eigenen Partei. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „gegen neue Stacheldrahtzäune“.
Thorsten Frei: Auch Ursula von der Leyen ist der Überzeugung, dass wir einen robusten Außengrenzschutz brauchen. In einer ähnlichen Situation hat sie Griechenland als „Schild“ Europas charakterisiert.
Cicero: Die Bundespolizei schätzt die Lage dramatischer ein. Müssen wir uns auch hierzulande auf den Ernstfall vorbereiten?
Thorsten Frei: Ich bin davon überzeugt, dass die Bundespolizei in einem solchen Fall sehr, sehr schnell reagieren könnte. Doch im Augenblick erleben wir, dass sich Polen intensiv bemüht, die Außengrenze zu schützen.
Cicero: Ist das nicht ein bisschen zynisch? Wir sehen Bilder von Menschen, die Löcher in den Zaun schneiden, um die Grenze zu passieren. Und wir sehen Bilder von Polizisten, die sie mit Gewalt zurückdrängen.
Thorsten Frei: Klar ist, dass auch Polen die Regeln des Völkerrechts einhalten muss. Das Völkerrecht kennt aber weder das Recht, eine Grenze an jedem Punkt überschreiten, noch an jedem Punkt einen Asylantrag stellen zu können. Darüber hinaus beinhaltet das Recht auf Asyl auch nicht das Recht, sich innerhalb der EU das Land aussuchen zu können, in dem man seinen Asylantrag stellt. Ein solcher rechtwidriger Versuch muss mit aller Kraft unterbunden werden. Den Anspruch, Migration zu steuern und zu ordnen, dürfen wir niemals aufgeben.
Cicero: Aber genau solche Bilder wollte die Kanzlerin 2015 verhindern, als sie die Menschen rein ließ. Solche Bilder werfen ja die Frage auf: Wo hört Schutz auf? Wo fängt Gewalt an?
Thorsten Frei: Eine starke Außengrenze, die nicht an jedem Punkt überwindbar ist, so dass Migranten einen Grenzübergang nutzen müssen, um sich registrieren zu lassen – das hat nichts mit Unmenschlichkeit  zu tun. Es ist eine Möglichkeit, Migration zu steuern und zu ordnen. 
Cicero: Grünen-Chef Robert Habeck und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil haben stattdessen vorgeschlagen, die Menschen an der belarussischen Grenze auf europäische Länder zu verteilen.
Thorsten Frei: Das ist gefährlich, naiv und unverantwortlich. Damit erreicht Lukaschenko sein Ziel, und es wird den Migrationsdruck auf die EU-Außengrenze nicht mindern. Es wird vielmehr dazu führen, dass es noch mehr Flüge aus dem Nahen Osten geben wird.
Cicero: … weil es dort als Freibrief verstanden wird?

Thorsten Frei: Ja, selbstverständlich. Das Signal, das damit ausgesendet wird, lautet: Der Weg nach Europa ist frei.
Cicero: Die CDU ist jetzt in der Opposition. Wie schätzen Sie die Chance ein, dass sie sich mit ihrem Kurs in der Belarus-Frage durchsetzt?
Thorsten Frei: Realistischerweise sind die Chancen der Oppositionsfraktionen nicht gut, sich mit ihren Vorschlägen im Parlament durchzusetzen. Aber unser Ziel ist es, eine Debatte über dieses Thema zu führen. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sich unsere Argumente durchsetzen.
Cicero: Der Applaus von der AfD ist ihnen schon mal sicher.
Thorsten Frei: Wir orientieren uns nicht an anderen Parteien. Wir machen eine Politik, die sich an der Sache orientiert.
Cicero: Immerhin hat die AfD das Wort „Grenzkontrollen“ ausgesprochen.  Der Bundesinnenminister  sprach am 19. Oktober noch von „gemeinsamen Streifen an der deutsch-polnischen Grenze unterhalb der Schwelle einer vorübergehenden Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen“. Warum redet er um den heißen Brei herum?
Thorsten Frei: Das tut er nicht. Es geht darum, Grenzen effektiv zu schützen und stationäre Grenzkontrollen zu vermeiden, die  – hier im Zweifel mit großem Rückstau in das Landesinnere verbunden sein könnten und dem gemeinsamen Wirtschaftsraum massiv schaden, diesseits und jenseits der Grenze. Das versuchen wir zu vermeiden. Und eine Möglichkeit sind gemeinsame Grenzkontrollen von deutschen und polnischen Polizisten, die derzeit intensiviert werden – übrigens verstärkt auf polnischer Seite.
Cicero: Nach EU-Recht dürften die Menschen gar nicht über die Grenze nach Deutschland gelangen. Sie müssten dort einen Aufenthaltstitel beantragen, wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben, also in Litauen oder in Polen. Täuscht der Eindruck, oder winken diese Länder die Leute einfach durch?
Thorsten Frei: Nein, ich habe bislang nicht den Eindruck, dass  Polen und Litaueneine Politik des Durchwinkens praktizieren. Sie schützen die Außengrenze konsequent. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass es Menschen immer wieder schaffen, über diese Grenze und unbemerkt durch Polen zu kommen.
Cicero: Die Bundespolizei spricht von 8.800 illegalen Grenzübertritten in diesem Jahr.
Thorsten Frei: Die Migranten, denen es gelingt, stellen naturgemäß keinen Asylantrag in Polen. Sie  versuchen, so schnell wie möglich nach Deutschland zu gelangen. Belarus nutzt sogar Schleuser-Strukturen in Polen, um die Menschen in fünf bis sechs Tagen nach Deutschland zu bringen. Das haben mir Polizisten in Frankfurt/Oder berichtet. Wenn dort Migranten aufgriffen werden, lautet die erste Frage stets: „Sind wir schon in Deutschland?“
Cicero: Und auf der deutschen Seite der Oder?
Thorsten Frei: Sie verhalten sich nicht unauffällig, sondern warten beispielsweise an Bushaltestellen auf einen Aufgriff. Teilweise melden sie sich selbst bei der Polizei, weil sie sich registrieren lassen wollen.
Cicero: 2015 hat Deutschland aber sich von der EU sehr wohl  Grenzkontrolle an der österreichisch-deutschen Grenze notifizieren lassen. Zurückgehalten wurde aber niemand.
Thorsten Frei: Wir haben dort keine physischen Barrieren. Wenn Sie nicht auf jeden Quadratmeter einen Polizisten stellen, gibt es natürlich auch Möglichkeiten, diese Grenze zu überwinden.
Cicero: Aber möglich gewesen wäre es doch. Die Kanzlerin wollte bloß keine hässlichen Bilder produzieren.
Thorsten Frei: Erstens ist es müßig, die Debatte von vor sechs Jahren erneut zu führen. Zweitens hatten wir 2015 eine völlig andere Situation. Bei den Menschen handelte es sich überwiegend um Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, nicht um Wirtschaftsmigranten.
Cicero: Damals sind auch Menschen eingereist, die sich als Kriminelle entpuppt haben. Hat die Bundesregierung irgendwelche Lehren aus 2015 gezogen, und wenn ja, welche?
Thorsten Frei: Natürlich wurden Lehren gezogen. Sie kulminierte in dem großen Migrationspaket, das wir im Frühsommer 2018 verabschiedet haben. Das waren insgesamt acht Gesetze mit den Kernbestandteilen Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das Geordnete-Rückkehr-Gesetz.
Cicero: Beide Gesetze erwiesen sich als Rohrkrepierer.
Thorsten Frei: Dem würde ich widersprechen. Auf der Grundlage des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes wurden seit Inkrafttreten am 1. März 2020 bis Juni 2021 bereits mehr als 50.000 Visa an Fachkräfte und Auszubildende ausgestellt. Das zeigt den grundsätzlichen Erfolg und die Wirksamkeit des neuen Rechtsrahmens; auch das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht ist nicht ohne Wirkung; man muss fairerweise hier auch die Auswirkungen der Pandemie in Rechnung stellen, die die Rückwirkungen enorm erschweren.
Cicero: Die Kanzlerin hat gerade in einem Interview mit der Deutschen Welle gesagt: „Ja, wir haben das geschafft.“ Aber wir waren wirklich viele Menschen.“  Fällt Ihr Fazit genauso optimistisch aus?
Thorsten Frei: Die Integration der Menschen, die zu uns kommen, ist eine sehr langwierige Herausforderung. Da geht es nicht nur um die Frage: Kann man eine Wohnung zur Verfügung stellen? Integration geht viel weiter. Das ist eine dauerhafte Kraftanstrengung. 
Cicero: Sind die tausenden von Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, eine Bedrohung für den sozialen Frieden?
Thorsten Frei: Wir sind als alternde und wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft auf Arbeitsmigration angewiesen. Doch zentral in diesem Zusammenhang ist: Man muss Arbeits- und Asylmigration voneinander trennen und wir haben immer sehr klar formuliert, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen darf.
Cicero: Wie soll das funktionieren? Die Menschen, die jetzt kommen, werden zwar Asyl beantragen, sie wollen aber eigentlich hier arbeiten. 
Thorsten Frei: Wer kein Asyl bekommt, muss zurück in sein Herkunftsland. Was die Ampelfraktionen wollen, ist eine Vermischung. Das äußert sich nirgendwo so deutlich wie im Spurwechsel, den sie durchsetzen wollen.
Cicero: Wer abgelehnt wurde, aber hier einen Job findet, darf bleiben?
Thorsten Frei: So steht es im Sondierungspapier der Ampel. Das ist ein gewaltiger Pull-Faktor, den wir in jedem Fall verhindern sollten. 

Quelle: https://www.cicero.de/innenpolitik/belarus-polen-migranten-2015-grenzkontrollen-merkel-von-der-leyen-bundespolizei-thorsten-frei