Gastbeitrag in der Fuldaer Zeitung: „Kapitulation des Rechtsstaats“

Gastkommentar in der Fuldaer Zeitung vom 02. Dezember 2022
Das ist die Kapitulation des Rechtsstaats
von Thorsten Frei
Integration heißt dazuzugehören, Teil des Anderen zu werden. Wer mit dem zweiten Pass in der Tasche rumrennt, wird nie Teil des Anderen. Weil: Ich kann mich immer so positionieren, wie ich will. Der Doppelpass ist die Entscheidung: Ich gehöre hier nicht her.“ Diese Worte stammen von dem ehemaligen SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky. Wenn jemand, der sich wie kaum ein anderer um die Integration von Zuwanderern bemüht hat, so klar gegen das Prinzip der Mehrstaatigkeit ausspricht, sollte uns das nachdenklich stimmen. Möglicherweise liegen die Dinge im Staatsangehörigkeitsrecht nicht ganz so einfach, wie das manchen in der Ampel-Koalition scheinen mag.  
Die Bundesinnenministerin steht im Begriff, mit der grundsätzlichen Hinnahme von Mehrstaatigkeit einen Paradigmenwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht einzuleiten. Dieser Bruch mit der bestehenden Rechtslage wird nicht nur weitreichende Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Staatsvolkes, sondern weit darüber hinaus Konsequenzen für das gesamte System der Aufenthaltstitel haben:
Denn wenn bereits nach fünf Jahren ein Anspruch auf Einbürgerung besteht, dann werden die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht und alle weiteren Aufenthaltstitel abgesenkt werden müssen. Das Recht zum Aufenthalt in Deutschland – es soll unter SPD und Grünen immer rascher vergeben und an immer geringere Voraussetzungen geknüpft werden. Zu welchen Blüten das führt, zeigt uns die Koalition mit dem Chancen-Aufenthaltsgesetz. Es gewährt Personen ein Recht auf Aufenthalt, die über Jahre ihrer Ausreisepflicht nicht nur nicht nachgekommen sind, sondern ihre Rückführung passiv und aktiv behindert haben.
Das ist die Kapitulation des Rechtsstaates; hier entsteht eine Rechtsordnung, die sich selbst nicht ernst nimmt und auf ihre Missachtung eine Prämie aussetzt.
Deutschland ist Einwanderungsland: Wir wollen Frauen und Männer aus allen Teilen der Welt anziehen, die unsere Werte teilen und mit uns gemeinsam etwas aufbauen wollen. Doch der Weg zu diesem Ziel führt nicht über die Entwertung der deutschen Staatsangehörigkeit.
Es wird argumentiert: Die doppelte Staatsbürgerschaft wäre Ausdruck der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Man könnte auch genau andersherum argumentieren: Die Einwanderungsgesellschaft nimmt jene auf, die sich zu ihr bekennen. Warum setzt dieses Bekenntnis eine zweite Staatsangehörigkeit voraus?
Es wird argumentiert: Die doppelte Staatsangehörigkeit verlange vom Bürger nicht mehr, sich zu zerreißen. Sie nähme den Bürger mit seiner Geschichte, mit seiner Tradition, mit seinen Wurzeln. Aber Geschichte, Tradition, Wurzeln – nichts von alle dem geht verloren, wenn man eine neue Staatsbürgerschaft annimmt und die alte ablegt.
Die Staatsangehörigkeit begründet ein besonderes Verhältnis zwischen den Bürgern. Eine gemeinsame Staatsangehörigkeit verpflichtet uns füreinander einzustehen, und zwar nicht in den Fällen, in denen das einfach ist, sondern in den Fällen, in denen es uns etwas abverlangt. Es ist leicht, die Staatsangehörigkeit zu besitzen, wenn dieser Staat ihnen im Gewande des Sozialstaates oder des demokratischen Rechtstaats oder der konsularischen Betreuung begegnet, aber schwer, wenn er sie aufruft, ihn notfalls mit ihrem Leben zu verteidigen. Eine gemeinsame Staatsangehörigkeit setzt als Grundlage deshalb eine besondere Identifikation voraus. Und an diese Grundlage darf die Ampel-Koalition doch nicht mit der technokratischen Geisteshaltung des Rechenschiebers herangehen, der sagt: Wir haben im europäischen Vergleich zu wenige Einbürgerungen; ergo müssen wir die Anforderungen an den Erwerb unserer Staatsbürgerschaft absenken.
Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht am Beginn der Zuwanderung stehen, sondern kann nur am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses.“