FAZ-Porträt: Mit Thorsten Frei im Wahlkreis

In der vergangenen Woche hat FAZ-Journalist Peter Carstens den direkt gewählten CDU-Bundestagsabgeordneten Thorsten Frei bei seiner Arbeit im Wahlkreis ‚Schwarzwald-Baar / Oberes Kinzigtal‘ begleitet. Das dabei entstandene Porträt ist heute in der Printausgabe der FAZ erschienen.


MIT THORSTEN FREI IM WAHLKREIS

Im Schwarzwald geht Angst um


In und um Donaueschingen ging’s den Leuten gut, nun naht eine beispiellose Krise. Kann Thorsten Frei etwas dagegen ausrichten? Unterwegs mit einem CDU-Abgeordneten im Wahlkreis.
Von Peter Carstens

Im Wahlkreis brodelt es. Aus der Tiefe des Gesteins quillt die junge Donau noch als Bächlein. In den Gemütern der Schwarzwälder sprudeln Sorgen und Nöte an den Tag, die seit Jahrzehnten ungekannt waren. Thorsten Frei vertritt die Region im Süden Baden-Württembergs im Bundestag, davor war er Oberbürgermeister in Donaueschingen. Tausende Mittelständler beliefern von hier aus Deutschland und die Welt mit technischen Spezialitäten. Davon kann man sich einiges leisten, die Schwimmbäder in Villingen und Schwenningen etwa heizten das Wasser an zwei „Warmtagen“ pro Woche auf 31 Grad, damit die Gäste sich zum Schwätzlein im Wasser treffen konnten. Die örtliche Industrie- und Handelskammer (IHK) hat eben einen modernen Neubau fertiggestellt. Für 19 Millionen Euro, finanziert aus den Beiträgen der 35 000 Mitgliedsunternehmen. Man kann sagen, den Leuten ging’s gut. Bisher. Doch es naht etwas heran, dessen vernichtende Kraft viele noch nicht einschätzen können. Frei hört und spürt die Sorgen tagtäglich.
Hohe Energiekosten und Inflation beuteln Betriebe und Bürger schon jetzt. Freis Nachfolger in Donaueschingen, Erik Pauly, wurde kürzlich mit mehr als 90 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Während seiner ersten Amtszeit sank die Arbeitslosigkeit von 3,5 auf 2,5 Prozent. Sein Jugendstil-Rathaus stammt aus dem Jahre 1909, das alte war abgebrannt, beim Wiederaufbau half das ganze Kaiserreich mit Spenden. An diesem Abend, als Vorgänger Frei auf einen Kaffee vorbeischaut, hört man durchs offene Fenster von Ferne Sprechchöre. Eine Handvoll „Montagsspaziergänger“ sammeln sich zum Protest. Auf Paulys Schreibtisch liegt der Haushaltsplan fürs kommende Jahr, ein Entwurf mit zu vielen Unbekannten, sorgt er sich. Und dann sind da noch Flüchtlinge aus der Ukraine. Über eine Million sind es inzwischen, mehr Menschen als vor sieben Jahren, als die Syrer ankamen. Damals diskutierte ganz Deutschland monatelang nichts anderes. Jetzt müssen die Kommunen zusehen, wie sie die Leute unterbringen, Wohnungen, Schulplätze, Arbeit organisieren. Und das nach zweieinhalb Jahren Corona und vor einem Niedergang der hiesigen Wirtschaft, den sich manche noch gar nicht bewusst machten, sagen Pauly und Frei.
Der Abgeordnete pendelt zwischen seinem Wahlkreis und Berlin. Dort ist Frei als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion der wichtigste Mann hinter Friedrich Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Frei managt die alltägliche Arbeit der Opposition – Forderungen, Reden, Statements, Papiere. Auf seinen Autofahrten durch den kurvenreichen Schwarzwald redigiert er Texte, bespricht die politischen Prioritäten. 197 Abgeordnete wollen zu ihren Fachthemen vorkommen in Zeitung und Fernsehen, planen Resolutionen, Reden, Reisen. Frei muss alles im Blick haben.
Mit Fingerspitzengefühl
Manche Spitzenkarriere ging von seinem Amt aus, so wie etwa die von Wolfgang Schäuble, der als Erster Parlamentarischer für Helmut Kohl anfing, oder auch die des gegenwärtigen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der als „PGF“ der SPD-Fraktion vor vielen Jahren Erfahrung sammelte. Mehrfach am Tag telefoniert Frei zwischen seinen Wahlkreis-Terminen mit den beiden Chefs, allein die Absprachen zwischen CDU und CSU, den ungleichen Schwestern, erfordern Fingerspitzengefühl. Im Bundestag sitzt Frei bei den Sitzungen zwischen Merz und Dobrindt. Wenn Scholz den Oppositionsführer anschreit, wie vorige Woche, dann ist es Frei, der zurückkeilt. Er ist eigentlich ein ruhiger Typ. Aber er macht das wohl auch, damit Merz nicht so aus der Rolle fällt wie der Kanzler.
In der Fraktion, vor allem aber im Wahlkreis kennt Frei so ziemlich alle und alles. Jedes Zähringer Türmchen, jede Dependance der Fürstenberg’schen Herrschaft, welche die Stadt bis heute prägt. Nicht nur wegen der Brauerei, die in Donaueschingen morgens ihren urigen Hopfenduft verströmt. Natürlich kennt Frei auch alle Bürgermeister, den Landrat, die Abgeordneten und dazu Hunderte Bürger, von den geschäftsführenden Brüdern Müller der Helios-Ventilatorenwerke bis hin zum Rentner Hans Bärenbold, 75 Jahre alt, der mit kurzen Hosen, Socken und Sandalen in fast jede Bürgersprechstunde eilt. Am Dienstagmittag ist er wieder zur Stelle. Der Mann breitet Zeitungsausschnitte zum Schweizer Atomlager und anderen Themen aus und erörtert die politische Großwetterlage. Frei nimmt sich für den Besucher ebenso viel Zeit wie für die Ventilator-Brüder, die nach einem Treffen am Vormittag mit ihren Limousinen zu den nächsten Terminen brausen. Was alle eint: die Sorge vor dem Kommenden. Grundstoffe wie Aluminium und Kupfer verteuern sich für Helios enorm. Teile-Lieferanten seien zum brutalen „Friss oder stirb“ bei der Zuteilung ihrer knappen Güter übergegangen, berichtet Gunther Müller, der ältere der Ingenieurs-Brüder. Die Preise für frühere Billigteilchen galoppierten ins Wahnwitzige. Auch Herr Bärenbold findet, dass die Lage sehr ernst ist. Deswegen wettert er gegen Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen. Aber „der Merz“ sei halt auch keine Alternative zum Kanzler, zu alt. „Der zukünftige Bundeskanzler sollte Thorsten Frei heißen“, sagt der Mann. Diese Stelle des Gesprächs ist dem höchst loyalen Frei ein wenig peinlich. Aber der „Alte aus dem sonnigen Brigachtal“, wie er sich selbst nennt, hat ja vielleicht Orakel-Qualität, dann muss man das natürlich erwähnen.
Mit einunddreißig erstmals zum Bürgermeister gewählt
Zurück zu den Unternehmern von Helios. Auf ihre Werkshalle am Neckar wollten die Müllers kürzlich Photovoltaikanlagen installieren. Die Gebäude-Versicherung verlangte einen absurden Aufschlag, der jeden Effizienzgewinn der Anlage ins Lächerliche zog. Ein paar Kilometer weiter wollte die IHK bei ihrem Neubau auf der grünen Wiese die behördlich auszuweisenden Parkplätze einsparen. Man tage und bilde vor allem abends fort, und in der Nachbarschaft stehe dann ein größeres Werksparkhaus praktisch leer und könne genutzt werden. Die Idee wurde amtsseitig zurückgewiesen. Nun schaut der IHK-Geschäftsführer Thomas Albiez tagsüber aus seinem superklimaneutralen Büro auf ein paar weitere Tausend Quadratmeter versiegelter Parkplatzfläche, die er niemals wollte.
Im Kreisjugendamt, nicht weit entfernt, berichten die Mitarbeiter, wie vergebens versucht wird, bestens ausgebildete ukrainische Erzieher und Lehrer für Hunderte ukrainische Kinder einzustellen. Diese Selbststrangulierung des Landes begegnet Frei im Wahlkreis auf Schritt und Tritt. Das Jugendamt ist soeben in einen sanierten Altbau eingezogen, die Einrichtung ist taufrisch. Doch auch hier wird die Lage immer ernster, hört er von Sozialdezernent Jürgen Stach: steigende Fallzahlen, etwa bei Unterhaltsverweigerung, mehr Gewalt in Familien, immer größere Schwierigkeiten, für Kinder in Not Unterkünfte zu finden. Was werde wohl werden, wenn die allgemeine Lage sich verschlechtert? Ihren Humor haben sie aber in Villingen noch nicht verloren: Auf dem Besprechungstisch steht ein Korb mit ganzen Brezeln. Man sei halt in Baden, heißt es, Richtung Schwaben würden nur halbe Brezeln gereicht, aus Sparsamkeit. Apropos: In den Bäckereien einer regionalen Filialkette steigen die Energiekosten ins Uferlose. Sie auf die frischen Brötchen umzulegen sei im Wettbewerb mit den Discountern aussichtslos.
Bald, so fürchtet Frei, werden Filialen schließen und alle dieselben Gummibrötchen essen, wie Briten oder Amerikaner. Derweil verstrome das Land mehr Gas als je zuvor und stelle die Atomkraftwerke ab. Er kann dagegen als Oppositionspolitiker nur wenig tun, aber irgendwann will er es besser machen, dafür schuftet er. In seinem Wahlkreisbüro hängt an der Garderobe ein Porträt Konrad Adenauers. Gegenüber vom Schreibtisch lächelt er vierfach selbst von Plakaten aus 18 Jahren Politik. Mit einunddreißig wurde der Jurist 2004 erstmals zum Bürgermeister gewählt, auf dem Plakat von damals sieht er noch jünger aus, als er war. Kurz nach der Wiederwahl mit 99,4 Prozent brauchte die zerstrittene Schwarzwald-CDU 2013 ihn unbedingt, um die Nachfolge des menschlich schwierigen Siegfried Kauder zu meistern. Frei tat der CDU den Gefallen, aber er ergriff auch die Chance, die sich bot. In der Bundestagsfraktion kannte man den Neuling bald, sicher wegen der Kauder-Causa, aber auch wegen des fröhlichen Fleißes, mit dem er sich in die Arbeit warf. 2017 stieg er zu einem der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden auf. Seit vorigem Jahr ist Frei nun Parlamentarischer Geschäftsführer. Ralph Brinkhaus hatte ihn gefragt, dessen Nachfolger Merz bot Frei an, zu bleiben.
Daheim zu schlafen ist Luxus
Das Amt fordert, 70 Wochenstunden kommen rasch zusammen, für die Fragen und Anliegen der Parlamentskollegen will er immer Zeit haben. Bei Frei kommt noch die Pendelei vom Nordosten in den Südwesten hinzu. Deutschland ist ganz schön groß, vor allem wenn der Zugverkehr dauernd Probleme bereitet. Monatelang fuhr die Schwarzwaldbahn nicht, weil die Züge in den Kurven mysteriöse Schleifgeräusche machten. Wenn es eilt, fährt Frei deswegen nach Zürich und fliegt von dort nach Berlin. Das ist schneller als der Zug. Den inzwischen neunundvierzig Jahre alten Frei scheint nichts zu bremsen. Während der Haushaltswoche hat er rund 70 Stunden im Bundestag gearbeitet, Freitagmittag dann weiter zum CDU-Parteitag nach Hannover, Sitzungsleitung, Niedersachsen-Abend, es wurde spät. Sonntagmittag ein paar Stunden mit Katharina, seiner Frau, und den drei Kindern. Montag und Dienstag dann kreuz und quer im Wahlkreis, früh um acht geht es los, gegen zehn abends kommt Frei nach Hause. Daheim in Donaueschingen zu schlafen ist Luxus. Zuvor musste er noch zur CDU-Kreisvorstandssitzung in einem Wirtshaus nach Königsfeld. Das Treffen mit den örtlichen ehrenamtlichen Parteifunktionären war erfreulich und ernüchternd. Zwei Frauen, die als Delegierte beim Bundesparteitag waren, sind voll des Lobes für die Stimmung in Hannover und die Quote. Aber viele äußern Zukunftssorgen.
Sie gleichen denen der Brüder Müller von Helios oder denen aus der Bürgersprechstunde. Eine Handwerkerin, 18 Mitarbeiter hat ihr Betrieb, erzählt, was Frei schon tagsüber zu hören bekam: Lieferengpässe, drastische Preissteigerungen über Nacht. „Wir rasen auf eine Wand zu“, sagt sie, „ich weiß nur nicht, wann wir aufprallen.“ Seit Tagen kommt aus Russland gar kein Gas mehr. Und die Regierung mache alles mit der Gasumlage noch teurer. Frei versucht zu beruhigen. Als jemand vorschlägt, die CDU solle demonstrieren, rät er ab. So geht der Abend im Nebenzimmer der Gaststube weiter. Der Bürgermeister einer Gemeinde mahnt: „Da kommt was, es wird schlimm.“ Er weigere sich aber, im Ort auf die Weihnachtsbeleuchtung zu verzichten, die bestehe vollkommen aus LEDs, und der Tannenbaum in der Ortsmitte spende Wärme im Herzen. Das sei wichtig. Der Kosten-Chart bei den Stadtwerken ist zwar etwas gesunken. Aber das bedeutet bloß: Gas kostet nicht mehr das Zehnfache des Preises vom Oktober 2021, sondern das Siebenfache. Der Stadtwerke-Chef Gregor Gülpen rechnet Frei vor, dass einen Vier-Personen-Haushalt kommenden Winter eine Rechnung von 4250 Euro statt bisher 1445 erwarte. Nächstes Jahr werde es noch deutlich mehr. Bei einem der hippen Privatanbieter, die lange die Stadtwerke alt aussehen ließen, koste dieselbe Menge nun allerdings 7500 Euro. Deswegen strömten die Schnäppchenjäger zurück zu den Stadtwerken in die Grundversorgung. Dafür reiche aber das Gas nicht, das die Stadtwerke im Voraus und zu relativ günstigen Preisen gebucht hätten. Also muss zum Irrsinnspreis nachgekauft werden, während andererseits täglich Dutzende Kunden anrufen, die das Geld für die Vorauszahlungen nicht mehr haben. Überall in Deutschland spiele sich derlei bei den kommunalen Versorgern ab. Es brodelt im Wahlkreis, es gärt in Deutschland, ja, aber man dürfe sich auch nicht verrückt machen lassen, sagt Frei zum Abschied. Dafür sei er nicht gewählt.