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Sicherheitspolitischer Gastbeitrag: Das Undenkbare denken

Gastbeitrag des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei in der FAZ-Ausgabe vom 24. Mai 2022

In Krisenzeiten kommt es darauf an, das Undenkbare zu denken

Der russische Angriffskrieg wirbelt Deutschlands Sicherheitspolitik durcheinander. Auf viele alte Gewissheiten ist kein Verlass mehr. In dieser schwierigen Phase hilft es wenig, an alten Glaubenssätzen aus Prinzip festzuhalten. Gefragt ist vielmehr ein nüchterner Blick auf die neuen Realitäten. Fest steht: Deutschland sieht sich einer dramatisch gestiegenen militärischen Bedrohung in unmittelbarer geographischer Nähe ausgesetzt. Es tobt ein großer Landkrieg, wie er lange Zeit für Europa als undenkbar galt, und niemand vermag zu sagen, welche Ausmaße er noch annimmt.

Ebenso überraschend, wie der Krieg über die Ukraine hereinbrach, fallen allerdings auch die Reaktionen auf diesen Völkerrechtsbruch aus. Die Kremlführung hatte offensichtlich nicht mit dem heroischen Widerstandswillen der Ukrainer gerechnet - und auch nicht erwartet, dass die USA, die EU und viele andere Staaten auf der Welt die Bedrängten mit großem Engagement humanitär, finanziell und militärisch unterstützen. Manche ziehen gar Vergleiche zur Freiheitsbewegung von 1989. Zugleich demonstriert die NATO mit einer beeindruckenden Präsenz in den östlichen Mitgliedsstaaten ihre schnelle Reaktionsfähigkeit in Krisenzeiten. Innerhalb weniger Tage hat Präsident Wladimir Putin genau das erhalten, was er über Jahrzehnte verhindern wollte: eine Aufstockung der NATO-Truppen an der russischen und belarussischen Grenze - und eine neue Eintracht des Westens.

Es lässt sich nur darüber spekulieren, wie es zu den Fehleinschätzungen in der Moskauer Führung kommen konnte. Ganz sicher aber dürfte das wechselhafte Erscheinungsbild der NATO in den vergangenen Jahren im Kreml sehr genau beobachtet worden sein. Dass das Verteidigungsbündnis mal als „hirntot“, mal als „obsolet“ bezeichnet wurde, war sicherlich wenig hilfreich. Glücklicherweise ist diese schwierige Phase überwunden, und die Allianz zeigt sich vitaler denn je. Nichtsdestotrotz wird Deutschland angesichts des Krieges vor schwerwiegende Fragen gestellt. Mit Sorge blicken Sicherheitsexperten beispielsweise auf die innenpolitische Entwicklung in den USA. Wie steht es um die eigene Sicherheit, sollte am 5. November 2024 der frühere Präsident Donald Trump wieder ins höchste Amt Amerikas gewählt werden? Frönt der Populist dann wieder dem Isolationismus, der für die gesamte freie Welt verheerend ist? Ein Blick auf die aktuellen Umfragen zeigt, dass wir gut beraten sind, uns mit diesem Szenario ernsthaft auseinanderzusetzen. Könnte sich Deutschland und Europa dann ebenso auf die großzügige Einsatz- und Hilfsbereitschaft Washingtons verlassen, wie sie in diesen Tagen und Wochen zu erleben ist?

Das Grauen in der Ukraine lässt uns keine andere Wahl, als das bisher Undenkbare zu denken. Europa muss eine Antwort auf die Frage finden, wie es sich notfalls auch ohne den großen Verbündeten im Westen behaupten kann. Den eigentlichen Schutz, und daran lässt die russische Aggression keinen Zweifel, bietet letztlich nur die nukleare Abschreckung.

Das bisherige Konzept der nuklearen Teilhabe basiert auf der Grundlage einer funktionierenden transatlantischen Partnerschaft. Was aber, wenn diese Partnerschaft einseitig in Frage gestellt werden würde?

Das Undenkbare zu denken ist in Krisenzeiten keine gedankliche Spielerei, sondern für Verantwortungsträger unerlässlich. Zurzeit liegt die Gewähr, dass russische Truppen keinen Fuß auf das NATO-Territorium setzen, in letzter Konsequenz in den amerikanischen Sprengköpfen begründet, die in mehreren Staaten der Europäischen Union lagern und im Extremfall von NATO-Truppen eingesetzt werden könnten. Das einzige EU-Land, das auch ohne Rückendeckung der USA eine glaubhafte Abschreckungsstrategie besitzt, ist Frankreich. Dagegen wäre Deutschland ebenso wie andere EU-Staaten den Erpressungen durch den Kreml mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt, würde ein amerikanischer Präsident auch nur leiseste Zweifel an der NATO äußern. Angesichts einer nicht auszuschließenden Wiederwahl Trumps und der akuten Bedrohungslage im Osten sollten sich die Europäer daher ernsthaft fragen, ob die bisherige nukleare Teilhabe auf eine eigenständige europäische Ebene gehoben werden sollte. Will die EU nicht zum Spielball anderer Mächte werden, führt an einem Ausbau der Europäischen Verteidigungsunion kein Weg vorbei. Das entsprechende Abschreckungspotenzial, das zurzeit nur aus den USA geliehen ist, gehört dann in ein eigenständiges Entscheidungsgremium – sinnvollerweise in die Verantwortung eines Europäischen Sicherheitsrates.

In der Konsequenz bedeutet dies die Europäisierung der französischen Atomstreitmacht. Sollte Frankreich dazu nicht bereit sein, müssten die EU-Mitgliedsstaaten selbst über den Aufbau eines atomaren Schutzschirms nachdenken.

Der 24. Februar 2022 stellt eine historische Zäsur dar – weitaus einschneidender als es der 11. September 2001 war. Damals stellte sich Europa wie selbstverständlich an die Seite Amerikas, so wie die USA heute an der Seite der EU und der Ukraine steht. Es wäre das Beste, wenn uns dieses Bündnis auch in die Zukunft trägt.

Nichtsdestotrotz würde die freie Welt beiderseits des Atlantiks davon profitieren, wenn die Europäer ihre militärische Abschreckung auf eine noch glaubwürdigere Basis stellen. Gerade die jüngsten Ereignisse erinnern schließlich an die Kernaufgabe eines Staates: die Sicherheit und Souveränität seiner Bewohner zu gewährleisten.