Afghanistan am Entscheidungspunkt: Deutschland muss eigene Interessen ambitionierter vertreten

Attentate wie der Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai 2017 bringen unser Engagement in Afghanistan schlaglichtartig immer wieder einmal zurück in das Bewusstsein einer breiten Masse der Bevölkerung. Ansonsten ist das Land heute mehr und mehr aus den Zeitungsspalten verschwunden, obwohl wir uns dort bisher am längsten außerhalb der eigenen Landesgrenzen engagieren. Der Bundeswehreinsatz war lange Zeit das größte Auslandsmandat. Vor Ort setzen wir uns unverändert stärker als sonst auf der Welt zivilgesellschaftlich für eine Verbesserung der Gesamtumstände ein. Wenn wir in diesem Zusammenhang eine Bilanz nach mehr als 17 Jahren des Einsatzes der Internationalen Gemeinschaft ziehen, dann fällt diese sehr gemischt aus. Obwohl sich Deutschland mit der Bundeswehr, mit einer bilateralen Polizeimission, staatlicher und ziviler Entwicklungszusammenarbeit, aber auch auf diplomatischem und zivilgesellschaftlichem Parkett stark engagiert und im Moment pro Jahr etwa 430 Millionen Euro von Berlin nach Kabul fließen, sehen wir viel Licht, aber ehrlicherweise auch viel Schatten. Schönfärberei ist deshalb völlig deplatziert, genau wie die Tendenz, alles schlecht zu reden. Denn es geht dabei nicht um gut oder schlecht, sondern um das Vertreten deutscher Interessen.
Im Haben stehen viele positive Punkte, die sich ganz konkret auf die Verbesserung des täglichen Lebens von Millionen Afghanen auswirken. Seit dem Beginn unseres Einsatzes im Jahr 2001 ist die Zahl eingeschulter Kinder von 1 Million auf über 9 Millionen angestiegen, davon 39 % Mädchen. Während 2003 beispielsweise nur 34.000 Afghanen studierten, sind es heute 262.000 junge Menschen. Diese Bildungsoffensive ist der größte Lichtblick für eine nachhaltig positive Gestaltung des Landes. Die große Masse junger Menschen – 63 % der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – will in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmtheit leben.
Außerdem ist die Lebenserwartung innerhalb kürzester Zeit um etwa 10 Jahre gestiegen, während sich die Müttersterblichkeit halbiert hat. Wasser- und Stromversorgung wurden massiv ausgebaut, genau wie das Straßennetz. Selbst im Bereich von Verwaltung und guter Regierungsführung gibt es zarte Fortschritte. Die Steuer- und Zolleinnahmen sind in den vergangenen drei Jahren um 13 bzw. 15 % gestiegen. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte im Umfang von mehr als 350.000 Soldaten und Polizisten ist weitestgehend abgeschlossen. Von Jahr zu Jahr wird ein deutlicher Trainings-, Führungs- und Einsatzfortschritt deutlich.
Aber dies ist nur die eine, die schöne Seite der Medaille. Es gibt wenigstens genauso viele negative Aspekte und Stillstand. 70% des afghanischen Haushalts wird auch heute noch durch internationale Geber finanziert. Das Land hängt unverändert am Tropf seiner Gönner und ist nicht allein überlebensfähig. Das zeigt sich auch daran, dass es wirtschaftlich kaum bergauf geht. Das Wirtschaftswachstum lag 2016 bei nur 2,5 %. Damit werden viel zu wenige Arbeitsplätze geschaffen für die große Schar von jungen Menschen, die von den Schulen und Universitäten ins Berufsleben streben und eine berufliche und private Perspektive suchen. Die Politik ist uneins, wie die Probleme gelöst werden können. Strukturelle Herausforderungen wie tradierte Mechanismen und endemische Korruption und die alles überschattende Sicherheitslage machen Fortschritte zu einem zähen Unterfangen und sorgen neuerdings sogar für Rückschritte. Diese zeigen sich am fortwährend schlechten Abschneiden Afghanistans in den relevanten Indizes. UN-Development-Index: Platz 171 von 188. Doing-Business-Report der Weltbank: Platz 183. Corruption Perception Index von Transparency International: Platz 169 von 176. Ganz sinnbildlich ist, dass Parlamentswahlen seit 2015 überfällig sind. Diese sind mittlerweile zwar für Dezember 2018 angesetzt. Allerdings habe ich größte Zweifel an deren Zustandekommen.
Und leider sehen wir ganz aktuell auch, dass die dunklen Wolken dichter werden. Dies nicht erst seit gestern. Das ist eine Entwicklung, die sich seit der Überleitung von ISAF auf Resolute Support und dem damit verbundenen Übergang der ausschließlichen Sicherheitsverantwortung auf die afghanischen Kräfte abzeichnet. Die Belege sind deutlich.
Die Zahl verheerender Attentate, auch mitten in Kabul nimmt zu. Allein im Januar gab es vier große Attentate mit mehr als 150 Toten. Daneben betont der UN-Bericht zur Lage der Zivilbevölkerung in Afghanistan, dass 2017 insgesamt 3.438 Zivilisten getötet und 7.015 verletzt wurden. Die tatsächliche Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Auch haben es die Taliban im Lauf der letzten drei Jahre geschafft, wieder mehr Gebiete unter die eigene Kontrolle zu bringen. 13 % der 401 Distrikte – vor allem ländliche und abgelegene Regionen – stehen unter ihrer Kontrolle und weitere 30 % sind heftig umkämpft.
Diese Entwicklungen müssen wir sehr genau beobachten. Dennoch dürften sie auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Taliban nicht in der Lage sein werden, die Regierung von Präsident Ashraf Ghani aus dem Amt zu jagen, solange der Westen vor Ort unterstützt. Rückblickend müssen wir aber feststellen, dass die Regierung und die Sicherheitskräfte zu früh in Eigenverantwortung entlassen wurden, die Taliban in der Folge erstarkt sind und sich in Afghanistan eine gefährliche Patt-Situation manifestiert hat. Es gilt folglich genau zu überlegen, was aus Sicht Deutschlands notwendig ist, um unsere eigenen Interessen am besten zu bedienen.
Eine Möglichkeit wäre, „alles weiter wie bisher“. Dies hielte ich jedoch für falsch, da die bereits beschriebene Patt-Situation weiter konserviert würde. Die von uns bis 2020 zugesagten Mittel in Höhe von 1,7 Mrd. EUR würden wirkungslos verpuffen und könnten dann an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden.
Eine weitere Variante wäre der vollständige Abzug aus Afghanistan, wie ihn beispielsweise die Linke fordert. Auch diese kommt aus meiner Sicht nicht in Frage. Die Taliban warten darauf seit langem. Das lässt sich seit dem Beginn von Resolute Support ablesen. Solange sie die Chance sehen, am Ende als Sieger vom Platz zu gehen, sind sie nicht zu Verhandlungen bereit. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zentralregierung in Windeseile scheitern würde, wenn die internationale Hilfe von jetzt auf gleich enden würde. Aus deutscher Sicht würde uns diese Option teuer zu stehen kommen. Afghanistan würde sich zum nächsten islamischen Kalifat entwickeln. Die Gefahr von externem Terror nach dem Ende interner Kämpfe würde steigen, genau wie die Anzahl der Afghanen, die nach Deutschland flöhen. Kurzum: Deutschland hat kein Interesse, dass Afghanistan zum Failed State wird.
Deshalb bin ich überzeugt, dass es auch aus Sicht Deutschlands lohnt, noch mehr Energie für Afghanistan zu mobilisieren – auch wenn dies eine lange Kraftanstrengung nach sich zieht. So unbeliebt diese Option politisch ist, wenn es sie gegenüber der eigenen Bevölkerung zu vermitteln gilt, so ist es doch der einzig gangbare Weg, um deutsche Interessen aktiv zu vertreten. Das müssen wir klar an die Menschen in Deutschland adressieren.
Die Taliban sind heute stärker als 2001. Der IS hat bereits mit einigen Tausend Kämpfern in der Provinz Khorasan Fuß gefasst. Taliban, IS und Al Quaida lehnen unsere Demokratie und freiheitliche Lebensweisen ab und wollen den Westen bekämpfen. Allein die jährlichen etwa 800 Mio. Dollar Einnahmen der Taliban aus Drogengeschäften und anderen Machenschaften zeigen ihr unverändert großes Terrorpotenzial. Deshalb sind wir in Afghanistan: Um dem Terror jeglichen Nährboden zu entziehen und um ein deutsches 9-11 zu verhindern.
Eine neue Terrorherrschaft in Afghanistan würde bedeuten, dass eine neue Flüchtlingswelle das Land verlassen würde. Während der Taliban-Herrschaft sind ad hoc fünf bis sechs Millionen Afghanen nach Pakistan und Iran geflohen. Die Bevölkerung ist seitdem enorm gewachsen und die neusten Entwicklungen in Pakistan mit der angeordneten Ausweisung von allen afghanischen Flüchtlingen unterstreichen, dass viele neue Flüchtlinge nach Europa und insbesondere nach Deutschland kommen würden. Schon heute leben etwas mehr als 250.000 afghanische Flüchtlinge bei uns. Wir sind auch deshalb in Afghanistan, weil wir nicht wollen, dass noch mehr Menschen vor dort nach Deutschland fliehen müssen.
Die Zahlen der UN-Drogen-Division verdeutlichen zudem, dass es mehr Druck gegen den illegalen Opiumanbau durch ein stärkeres Engagement der internationalen Partner Afghanistans geben muss. Die geschätzte Produktion lag im vergangenen Jahr bei 9.000 to, was einer alarmierender Steigerung von 87 %  und 70-90 % der weltweit produzierten Menge entspricht. Flankiert wird dieser Negativtrend auch durch die Ausdehnung der Anbauflächen um 63 % auf den Höchststand von 328.000 ha, während im Gegenzug nur etwa 750 ha zerstört wurden.
Und natürlich spielen für uns als Exportweltmeister auch wirtschaftliche Erwägungen eine große Rolle. Zum einen gibt es am Hindukusch reiche Bodenschatzvorkommen wie Kupfer, Lithium, seltenen Erden und Metalle. Zum anderen leben die Menschen dort noch immer auf einem sehr niedrigen Niveau, gleiches gilt für die Infrastruktur. Afghanistan ist trotz aller Schwierigkeiten ein zukünftiger Wachstumsmarkt. China und Indien haben dies bereits erkannt. Und durch unsere sicht- und spürbare Präsenz haben wir auch einen Fuß in der Tür, die es mit Kraft offen zu halten gilt.
Uns geht es auch um Glaubwürdigkeit. Als NATO wollen wir nicht als Opfer auf dem „Friedhof der Mächte“ enden, so wie es der Sowjetunion, Osmanen, Persern und vielen anderen in der Vergangenheit ergangen ist. Wir haben unseren afghanischen Partnern das Wort gegeben, dass wir uns für eine bessere Zukunft des Landes einsetzen, auch wenn es einen langen Atem braucht. Diese Glaubwürdigkeit ist insbesondere auch deswegen nötig, da insbesondere Russland, China und auch Iran unsere demokratisch legitimierten und wertebasierten Gesellschaftssysteme als gescheitert und als minderwertig ansehen.
Um diese konkreten Ziele zu erreichen, braucht es absehbar eine stärke Unterstützung Afghanistans. Einen ersten wichtigen Impuls dafür hat US-Präsident Donald Trump mit seiner Ankündigung im vergangenen Herbst geliefert, die eigenen Truppen von etwa 8.500 auf 12.500 aufstocken zu wollen und insbesondere die eigenen Operationen auszuweiten. Ganz wesentlich aber ist, dass Donald Trump das US-Engagement an Konditionen gebunden hat. Diese  Kehrtwende des US-Präsidenten untermauert, dass „mehr als bisher“ die einzig richtige Option ist
Offenbar scheinen die verstärkte Präsenz und die operative Unterstützung der USA bereits nach kurzer Zeit zu wirken. Die Taliban stehen unter zunehmenden Druck. Führende Köpfe müssen um ihr Leben fürchten oder wurden bereits eliminiert. Viele Beobachter deuten die zunehmende Gewalt auch als Reaktion auf das scharfe Eingreifen der US-Truppen. Diese These wird auch dadurch gestützt, dass sich die Taliban Mitte Februar in einem Brief an das amerikanische Volk, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und Kongressabgeordnete gewandt und die Bereitschaft zu Friedengespräche angedeutet haben. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang, der darauf hindeutet, dass eine Entscheidung für oder wider eine gute Zukunftsperspektive im Jahr 2018 fallen könnte.
Deutschland sollte dieses Momentum zusammen mit seinen Verbündeten nutzen. Dies kann nur im partnerschaftlichen Miteinander im Rahmen der NATO und mit der Kabuler Regierung geschehen. Ein deutliches Zeichen dafür wären zusätzliche Mittel und ein kraftvolles Signal bei der Mandatsobergrenze. Mit einem gesamthaften Ansatz aus einer verstärkten zivilen, polizeilichen und militärischen Präsenz müssen wir die staatlichen Strukturen so stärken, dass die Regierung Ghani ihr Gewaltmonopol auch außerhalb Kabuls durchsetzen kann. Wenn dies gelänge, wäre die wesentliche Voraussetzung geschaffen, um unter Einbeziehung geschwächter Taliban einen umfassenden Friedensprozess zu initiieren. Dazu gilt es, China als UN-Sicherheitsratsmitglied und regionale Entscheidungsmacht mehr als bisher zu einer Lösungsfindung gerade auch in Bezug auf Pakistan zu drängen.
Ein solches Vorgehen setzt aber voraus, dass wir tatsächlich bereit sind, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. Zwar haben der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und unser heutiger Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit ihrem konzertierten Vorstoß auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor fast exakt 4 Jahren eine große gesellschaftliche Debatte um mehr deutsches Engagement angekündigt. In Folge dessen haben wir vor allem die Mittel für die zivile Krisenprävention deutlich angehoben. Diese sind seit 2005 um das 25-fache von 12,6 Millionen auf heute 316 Millionen Euro gesteigert worden, angesichts der Krisen in der Welt die humanitäre Hilfe gar um das 31-fache. Da Krisenprävention umfassend zu verstehen ist, ist es auch beachtlich, dass wir bei der Entwicklungszusammenarbeit unser deutsches Engagement seit 2013 um über 35 Prozent erhöht haben. Zu einer kraftvollen Außenpolitik gehört aber mehr.
Das unterstrich noch einmal die erst kürzlich zu Ende gegangene letzte Auflage der Münchner Sicherheitskonferenz in Verbindung mit den vielen unguten Entwicklungen seit 2014 – sei es in der Ukraine, in Syrien und dem Nahen Osten allgemein, sei es der Brexit oder seien es die Entwicklungen bei unserem NATO-Partner Türkei oder auf der anderen Seite in Russland. Mehr denn je kommt es jetzt auf die Emanzipation der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an, die nicht ohne die Bereitschaft Deutschlands, in solchen Dingen Führung zu zeigen und voran zu gehen, gelingen kann. Schließlich geht es angesichts globaler Kräfteverschiebungen um nichts Geringeres als den Erhalt unserer Freiheit, unserer Demokratie, unseres Wohlstands und unserer Art zu leben.
Neben intakten Strukturen erfordert dies vor allem eine einsatzbereite und leistungsfähige Bundeswehr. Leider zeigt die Truppe beim genaueren Blick im Großen wie im Kleinen, dass wir unsere Armee in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vernachlässigt und kaputt gespart haben. Umso weniger kann ich verstehen, warum sich Deutschland, aber insbesondere die Sozialdemokratie so schwer damit tut, das im Rahmen der NATO selbst mitverhandelte und -verantworte 2-%-Ziel einzuhalten.
Wenn Deutschland dieser Verpflichtung nachkäme und den Verteidigungsetat in den nächsten 6-10 Jahren auf etwa 70 Mrd. EUR steigern würde, hätte dies weder etwas mit einem neuen Wettrüsten zu tun, noch würde es uns angesichts eines sozialen Umverteilungssystems von mehr als 1.000 Mrd. EUR im Jahr in den Ruin treiben. Vielmehr wäre ein solcher Anstieg das Ergebnis verantwortungsvoller Politik, die das Rosten unserer Panzer, Flugzeuge und Schiffe beendete, das Leben unserer Soldaten im Einsatz schützen würde, unsere Verlässlichkeit als Bündnispartner wieder herstellte und unsere Glaubwürdigkeit als internationaler Akteur stärkte. Ein solcher Aufwuchs wäre eine gute Investition in unseren Frieden und zur Durchsetzung unserer Interessen. Natürlich ist auch mir bewusst, dass dies nicht von heute auf morgen gelingen kann. Aber wir müssen diesen Weg jetzt einschlagen und kontinuierlich weitergehen. Ein deutliches Signal an unsere NATO-Partner, die Afghanen und auch die Taliban für ein verstärktes Engagement am Hindukusch über den 31.3.2018 hinaus wäre ein erster wichtiger Schritt zur Erreichung dieser Ziele. Dabei müssen wir uns immer vor Augen führen, dass sich Entscheidungen zu unserer zukünftigen Afghanistan-Politik nicht an innenpolitischen Gegebenheiten und Wahlterminen orientieren dürfen, sondern ausschließlich an der Sicherheitslage in Afghanistan.