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Namensbeitrag in der WELT: "Frau Justizministerin, diese Strafen reichen noch nicht!"

Namensbeitrag von Thorsten Frei in der WELT:


Die Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch steigen, und Ministerin Christine Lambrecht hat ein Reformpaket zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt vorgelegt. Doch es fehlt noch vieles - vor allem mehr Befugnisse für die Ermittler, meint unser Gastautor.

 

Staufen, Lüdge, Bergisch Gladbach oder jetzt zuletzt Münster – die Liste der Orte, an denen in der jüngsten Zeit fürchterlichste Taten an Kindern entdeckt wurden, lässt sich beliebig verlängern. 2019 gab es fast elf Prozent mehr Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch als im Vorjahr. Es wurden fast 65 Prozent mehr Fälle von Kinderpornografie enttarnt. Und wir ahnen: Die Dunkelziffer liegt erheblich höher.

Noch immer sind die Ermittler an vielen Stellen mit angezogener Handbremse unterwegs, klagen Jugendämter über Überlastung, sind die Straftäter oft weitaus besser technisch gerüstet als diejenigen, die ihnen das Handwerk legen sollen, weisen Delikte einen zu geringen Strafrahmen auf.

Deshalb ist richtig, dass die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf Druck der CDU/CSU am 1. Juli 2020 ein Reformpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vorgelegt hat. Hierzu gehören Vorschläge wie etwa, den sexuellen Kindesmissbrauch zum Verbrechen zu machen, die Strafrahmen bei der Kinderpornografie erheblich anzuheben und bei der gewerbsmäßigen Verbreitung von Kinderpornografie auf zwei Jahre zu erhöhen. Dies alles unterstütze ich.

Die Vorschläge der Justizministerin aber gehen nicht weit genug. Das Problem ist: Es fehlen wichtige Ermittlungsbefugnisse für Polizei und Staatsanwaltschaft. Hier bestehen erhebliche Defizite, oft aus falsch verstandenem Datenschutz. Über die organisierte Kriminalität schrieb ein Ermittler kürzlich: Die Verbrecher fliegen Concorde – und wir fahren in der Postkutsche hinterher.

Den Ermittlern gegen Pädokriminelle geht es ähnlich. Deshalb fordern wir: Die Untersuchungshaft muss auch bei Kinderpornografie leichter verhängt werden können. Wiederholungsgefahr muss genügen. Es muss möglich sein, die Daten eines wegen Kinderpornografie Verdächtigen online durchsuchen zu können – nicht nur bei Banden, was kaum nachweisbar ist.

Ermittler müssen digitale Identitäten der Straftäter im Netz übernehmen können: So könnten sie sich Zutritt zu Foren im Darknet verschaffen und weitere Straftäter überführen. Außerdem muss es möglich sein, die Daten eines Verdächtigen verdeckt beschlagnahmen zu können – wenn die Ermittler die Täter vorab informieren, können hier wichtige Beweise vernichtet werden.

Vor allem brauchen wir eine tragfähige Lösung für die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland: Sie ist in Deutschland zwar geltendes Recht, liegt aber wegen Europarecht zurzeit auf Eis. Das hat dramatische Folgen: Allein 2017 konnten 8400 Fälle von Kinderpornografie nicht verfolgt werden, weil die Löschfristen in Deutschland abgelaufen waren – 8400 Fälle, in denen Kinder verletzt, gequält und erniedrigt werden.

Schließlich müssen die Provider verpflichtet werden, alle Informationen bei Kinderpornografie und sexuellem Kindesmissbrauch an das Bundeskriminalamt auszuleiten – nicht nur die IP-Adressen, wie sie es jetzt in einem ersten gesetzlichen Schritt müssen. In den Vereinigten Staaten ist das schon jetzt Pflicht.

Dort leistet das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) seit Jahrzehnten unschätzbare Hilfe bei der Aufklärung solch schrecklicher Straftaten. Tausende Hinweise für Ermittlungen in Deutschland stammen von dort. Dieses Zentrum sucht zudem auch nach vermissten Kindern, mit Steckbriefen und einer Hotline. Eine solche Stelle brauchen wir auch für Europa.

Fest steht: Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass dieses Leid von Kindern mitten unter uns geschieht. Denn jeder einzelne Fall, jedes einzelne Schicksal steht für ein zerstörtes Kinderleben. Es ist vorderste Aufgabe einer zivilisierten Gesellschaft, ihre Kinder zu schützen.

 

Quelle: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article211149855/Kindesmissbrauch-Strafen-reichen-noch-nicht.html?cid=onsite.onsitesearch