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FAZ: Europa braucht eine Stabilitätskultur

Von Thorsten Frei, Mathias Middelberg

Die Europäische Union muss sich in den nächsten Monaten auf eine Reform der EU-Schuldenregeln verständigen, die langfristig über die Stabilität unserer europäischen Währung entscheidet. Die Regeln haben Auswirkungen auf die Möglichkeiten der EZB zur Bekämpfung der Inflation. Eine unabhängige Notenbank ist für die Geldwertstabilität eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung. Es sind in besonderem Maße unsolide Staatsfinanzen, die die Preisstabilität gefährden. Durch eine übermäßige Verschuldung wird der Druck auf die EZB übermächtig, den Staaten zur Seite zu springen und ihr Mandat der Geldwertstabilität zu überdehnen. Wenn die Geldpolitik der Zentralbank die Solvenz des Staates gewährleisten soll, bestimmen dessen fiskalpolitische Bedürfnisse die geldpolitische Ausrichtung und damit die Höhe der Inflation. Die Leidtragenden sind die Bürgerinnen und Bürger – mit einem seit vielen Jahrzehnten nicht gekannten allgemeinen Wohlstandsverlust durch enorme Preissteigerungen.

Einer solchen Entwicklung wollen wir mit einer Stabilitätskultur entgegentreten. Sie muss fiskalpolitische Verantwortung und Haftung auf derselben Ebene ansiedeln. Insbesondere muss verhindert werden, dass die Kosten übermäßiger Verschuldung auf die Gemeinschaft abgewälzt werden können. Ansonsten würde die Währungsgemeinschaft in eine erpresserische Solidarhaftung gebracht und die Stabilität der Eurozone insgesamt gefährdet. Um die Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken, sind folgende Maßnahmen unerlässlich, die wir dem Parteitag der CDU Deutschlands vorschlagen wollen:

  • Dem Subsidiaritätsprinzip folgend, muss die europäische Ebene in den Bereichen Binnenmarkt, Außenhandel, Verteidigung, Migration und Klimaschutz mehr Kompetenzen erhalten. Durch Synergieeffekte lassen sich so Kosten sowohl auf nationaler Ebene als auch auf EU-Ebene einsparen. Dem Motto „Einheit in Vielfalt“ folgend, ist bei diesen Integrationsschritten auch eine Integration gemäß dem Prinzip der Verstärkten Zusammenarbeit sinnvoll. Andere Politikbereiche, wie die Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, sind aus guten Gründen auf nationaler Ebene angesiedelt. Eine Vergemeinschaftung dieser Politikbereiche lehnen wir ab.
  • Europäischer Zu­sammenhalt in der Pandemie war richtig. Er hat seinen Ausdruck im Aufbauprogramm „NextGenerationEU“ gefunden, für das die EU erstmals in enormem Umfang Schulden aufgenommen hat, die nicht den Fiskalregeln unterliegen und die die Schuldentragfähigkeit der Mitgliedstaaten verzerren können. Diese Verschuldung muss auf die Dauer und Folgen der Pandemie beschränkt bleiben. Ein Folgeprogramm mit EU-Verschuldung lehnen wir ab. Wir wollen eine Stabilitätsgemeinschaft, keine Transfer- und Schuldenunion durch die Hintertür.
  • Für die Unabhängigkeit der Geldpolitik ist es von zentraler Bedeutung, dass die europäischen Fiskalregeln zügig wieder in Kraft gesetzt und weiterentwickelt werden. Die Maßstäbe einer Schuldenstandsquote von 60 Prozent und eines öffentlichen Defizits von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes müssen verbindlich bleiben. Neue Ausnahmetatbestände oder das Herausrechnen einzelner Positionen lehnen wir ab. Die Kritik, dass die Fiskal­regeln „wachstums- und innovationsfreundlicher“ gestaltet werden müssten, ist abwegig. Die Historie zeigt, dass in den vergangenen Jahren Schulden nicht primär für produktivitätssteigernde Investitionen, sondern für konsumtive Ausgaben aufgenommen wurden. Die Ausdehnung der Staatsquote wurde vom Sozialstaat absorbiert. Die von der Bundesregierung jüngst vorgeschlagene Ausweitung der „Flexibilitätsklauseln“ ist eine Einladung zum massiven Ausbau der Staatsverschuldung. Die vom Finanzminister vordergründig hochgehaltenen Maastricht-Kriterien würden so immer mehr zur reinen Fassade.
  • Das größte Defizit der Fiskalregeln liegt in ihrer Komplexität. Diese muss reduziert werden. Dazu kommt, dass die Kommission der Kontrolle der Stabilitäts- und Wachstumsregeln nicht ausreichend nachgekommen ist. Wir wollen deshalb die Überwachung der Fiskalregeln auf andere vorhandene europäische Institutionen wie den Europäischen Fiskalausschuss, den Europäischen Rechnungshof oder den ESM übertragen.
  • Die Unabhängigkeit der EZB bedingt, dass sich die Zentralbank nicht selbst in Abhängigkeiten begibt. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Eurostaaten vor jeder Reaktion des Marktes zu schützen. Es ist gerade der disziplinierende Druck des Marktes, der die Staaten vor Überschuldung schützt. Es ist der Verfassungsauftrag des deutschen Finanzministers, darauf zu achten, dass sich die europäischen Institutionen im Rahmen ihres Mandates bewegen. Seine Sorglosigkeit mit Blick auf die EZB teilen wir nicht. Zunehmend selektiver vorgenommene Staatsanleihekäufe oder Um­schichtungen hin zu hochverzinsten Anleihen bestimmter Staaten würden dazu führen, dass die Geldpolitik immer stärker in den Sog der monetären Staatsfinanzierung gerät. Die EZB darf diese Grenze nicht überschreiten.
  • Eine staatliche Insolvenzordnung würde die No-Bail-Out-Klausel der europäischen Verträge glaubwürdig machen und wäre ein wichtiges Instrument zur Krisenprävention. Um auf den Finanzmärkten keine Unsicherheiten hervorzurufen, sollte die Insolvenzordnung zeitnah beschlossen und zwingend ausgestaltet, aber erst nach einer Karenzzeit eingeführt werden.
  • Wir setzen uns für eine Stärkung der Banken- und Kapitalmarktunion ein, indem Staatsanleihen künftig mit Eigenkapital zu unterlegen sind. Eine Eigenkapitalunterlegung für heimische Staatsanleihen würde helfen, die Abhängigkeit der Banken von Regierungen zu reduzieren.

Thorsten Frei ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestags­fraktion.

Mathias Middelberg ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion.