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"Der Weg ist nicht offen" - Thorsten Frei im Gespräch mit "Das Parlament"

 

Thorsten Frei im Gespräch mit Helmut Stoltenberg von "Das Parlament":

 

Herr Frei, die Türkei hat die Grenzen zur EU geöffnet. Müssen wir uns auf eine Situation wie im Jahr 2015 einstellen?

Grenzen kann man nicht einseitig öffnen. Die Griechen wehren illegale Grenzübertritte in einer relativ hohen Zahl ab und haben diejenigen festgesetzt, die dennoch illegal eingereist sind. Insofern lautet die klare Botschaft: Die Grenzen nach Europa sind nicht offen.

 

Sie fordern, europaweit grenzpolizeiliche und humanitäre Hilfe für Griechenland zu mobilisieren. Hätte das nicht längst geschehen müssen?

Man darf nicht vergessen, dass Deutschland auch auf den griechischen Inseln humanitär geholfen hat. Erst im Dezember hat die Bundesregierung eine Hilfslieferung mit Zelten, Feldbetten und Decken im Wert von fast 1,6 Millionen Euro nach Griechenland gesandt. Insbesondere haben wir seit 2016 die Lage Griechenlands durch das EU-Türkei-Abkommen stabilisiert. Im Rahmen dieses Abkommens werden in zwei Tranchen drei Milliarden Euro aus Mitteln der EU und der Einzelstaaten, auch Deutschlands, den Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt. 3,2 Milliarden Euro sind bereits überwiesen, die gesamte Summe bereits in Programmen gebunden. Deutschland und Europa sind also in der Vergangenheit ihrer humanitären Verantwortung gerecht geworden.

 

Gleichwohl waren die Zustände in den griechischen Flüchtlingslagern in der Vergangenheit indiskutabel.

Die alte, sozialistische Regierung von Alexis Tsipras war offensichtlich nicht in der Lage, dieses Problem zu beherrschen, und möglicherweise auch nicht willens dazu. Ein zweiter Pfeiler des EU-Türkei-Abkommens ist die Idee - um das Schlepper-Geschäft auszuhebeln -, dass wir von den griechischen Inseln jeden unberechtigten Migranten in die Türkei zurückschicken und dafür aus der Türkei einen syrischen Bürgerkriegsflüchtling in Europa aufnehmen. Tatsächlich wurden in den vergangenen knapp vier Jahren nicht einmal 2.000 Menschen von Griechenland in die Türkei zurückgebracht, während etwa 23.000 aus der Türkei in die EU umgesiedelt wurden. Dagegen hat die neue griechische Regierung den echten Willen, den besonderen Erfordernissen nachzukommen, die sich für das Land aus der EU-Türkei-Vereinbarung und seiner Lage als Schengen-Grenzstaat ergeben.

 

Kritiker werfen der EU vor, bei der Sicherung der Außengrenzen in den vergangenen Jahren nicht wirklich vorangekommen zu sein. Zu Recht?

Ja, der Vorwurf ist berechtigt. Europa hat die Zeit seit 2015/16 nicht wirklich genutzt. Wir haben auf europäischer Ebene entschieden, die EU-Grenzschutzagentur Frontex bis 2027 von 1.500 auf 10.000 Mann auszubauen. Das ist sowohl auf dem Zeitstrahl als auch quantitativ viel zu wenig. Insbesondere müssen wir Frontex mit entsprechenden Kompetenzen für einen effektiven Grenzschutz versehen. Eine effektive Außengrenzsicherung halte ich für die Grundvoraussetzung für mehr europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich.

 

Weshalb das?

Es ist erkennbar schwer, bei der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems voranzukommen - worum sich gerade die Bundesregierung stark bemüht. Wir werden aber unsere Partner nie von einer Verteilung von Flüchtlingen überzeugen können, wenn wir keinen glaubwürdigen Außengrenzschutz haben. Deshalb hängt auch vom Geschehen an der griechisch-türkischen Grenze unglaublich viel ab. Wenn die Grenzsicherung dort nicht gelingt, werden wir bei der gemeinsamen europäischen Asylpolitik nicht vorwärts kommen. Und zweitens wird es dann nationale Grenzkontrollen mit Zurückweisungen geben müssen - nicht nur wie angekündigt in Österreich und Ungarn, sondern auch bei uns in Deutschland. Es ist wichtig, schon heute das klare Signal zu senden, dass der Weg nach Europa, nach Deutschland nicht offen ist, damit sich die Menschen gar nicht erst auf den Weg machen. Wir sollten umgekehrt alles dafür tun, deren Situation vor Ort so zu verbessern, dass es menschenwürdige Verhältnisse sind.

 

Es gibt Forderungen, Flüchtlinge aus Griechenland schnell auf bereitwillige EU-Staaten zu verteilen und dafür auch Deutschlands Unterkunftkapazitäten wieder zu aktivieren. Macht das Sinn?

Das macht keinen Sinn, sondern hat geradezu die gegenteilige Wirkung. Würde man das tun, wie es etwa die Grünen vorschlagen, würde man in der Region eine unglaubliche Sogwirkung erzeugen, weil es das Signal wäre, dass die Wege nach Deutschland offen sind. Deswegen ist das kein adäquater Schritt. Unsere Überlegungen für ein gemeinsames europäisches Asylsystem gehen vielmehr dahin, dass an den europäischen Außengrenzen geklärt wird, ob eine Bleibeberechtigung besteht. Erst wenn an den Außengrenzen drei Faktoren gegeben sind, nämlich Registrierung, Sicherheitsüberprüfung und zumindest eine kursorische Prüfung der Bleibeberechtigung, kann eine Verteilung auf die Mitgliedstaaten erfolgen. Darauf muss Deutschland bestehen, denn Rückführungen sind für alle Beteiligten ein schwieriges Unterfangen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diejenigen, die offensichtlich nicht schutzbedürftig sind, gar nicht erst hierher kommen.

 

Sind denn Befürchtungen, dass wie 2015 hunderttausende Flüchtlinge über den Balkan nach Norden ziehen, überhaupt realistisch?

Die Gefahr besteht. Im vergangenen Jahr gab es auf den griechischen Inseln schon etwa 60.000 Ankünfte aus der Türkei. Das waren doppelt so viel wie im Jahr zuvor. In der Türkei gibt es etwa 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge und mindestens eine Million nichtsyrische Migranten. Darüber hinaus haben wir eine schreckliche humanitäre Situation in Syrien. Allein in der Provinz Idlib dürften etwa zwei Millionen Menschen sein, die in die Türkei strömen würden, wenn deren Grenze offen wäre, und die im Zweifel auch nicht dort bleiben würden.

 

Müssen wir der Türkei also mehr zahlen, sie stärker unterstützen, damit die Flüchtlinge dort bleiben?

Wir dürfen das EU-Türkei-Abkommen nicht leichtfertig für gescheitert erklären, sondern sollten im Gespräch mit der Türkei bleiben. Die Türkei braucht auch unsere Unterstützung, wenn es um die Versorgung der Flüchtlinge aus Syrien geht. Davor kann man nicht die Augen verschließen. Deswegen brauchen wir unter Umständen eine erneuerte vertragliche Grundlage mit der Türkei. Notwendig ist beides: ein effektiver Außengrenzschutz und ein partnerschaftliches Vorgehen mit den Ländern auf der jeweils anderen Seite der Grenze. Deshalb ist die Partnerschaft mit der Türkei ein hohes Gut. Wir würden uns alle wünschen, wenn das Gleiche auch mit den nordafrikanischen Ländern gelänge. Für alle Beteiligten, insbesondere für die Flüchtlinge, wäre es das Beste, sie möglichst nahe ihrer Heimat zu versorgen.

 

Sie haben die Reform des europäischen Asylsystems angesprochen: Haben Sie Hoffnung, dass sich da etwas bewegt?

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen dazu eigene Vorschläge vorgelegt; jetzt sind wir gespannt, welche Ideen die EU-Kommission vorschlagen wird. Wenn Deutschland in der zweiten Jahreshälfte die EU-Ratspräsidentschaft inne hat, wird das für uns ein Schwerpunktthema sein. Die Frage, wie wir mit Migration umgehen und wie sie für uns beherrschbar ist, ist für die EU und Deutschland eine zentrale Zukunftsaufgabe, bei der wir Handlungsfähigkeit zeigen müssen.

 

Das Gespräch führte Helmut Stoltenberg.

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